Volkswagen Hauke Stars

„Wir geben rund 5,4 Milliarden Euro jährlich für IT aus. Diese Umfänge können wir unmöglich allein aus der Organisation heraus stemmen", sagt Volkswagens IT-Chefin Hauke Stars. (Bild: Claus Dick)

Frau Stars, Sie sind seit etwas mehr als einem halben Jahr IT-Vorständin von Volkswagen. Wie sah Ihr Arbeitsalltag in den ersten Monaten aus?

Meine Anfangszeit war geprägt vom Kennenlernen und Zuhören. Ich habe sehr viele Gespräche geführt, verschiedene Marken und Regionen besucht und mir ein umfassendes Bild von der Organisation gemacht. Ich habe mich auch damit auseinandergesetzt, was abgeleitet von unserer Strategie „New Auto“ für Volkswagen in den kommenden Jahren grundsätzlich wichtig sein wird: Das sind auf der einen Seite klar E-Mobilität und Nachhaltigkeit, auf der anderen Seite die Digitalisierung. Ich bin fast geneigt zu sagen, im Vergleich zu den Herausforderungen der digitalen Transformation ist die Elektromobilität schon fast ein alter Hut (lacht). Wir sind dort sehr gut aufgestellt. Unsere Transformation hin zu software- und datenbasierter Mobilität ist aus meiner Sicht die anspruchsvollere Aufgabe. Auch weil ganz andere Player – vor allem aus der Tech-Branche – von einer ganz anderen Seite an das Thema Mobilität herangehen und in Konkurrenz zu uns treten. Deshalb ist es wichtig, dass wir der New-Auto-Strategie eine passende IT-Strategie an die Seite stellen, die auf unsere geschäftlichen Ziele einzahlt. Also haben wir zunächst eine große Bestandsaufnahme der IT gemacht. Rund 300 Kolleginnen und Kollegen aus allen Marken und Regionen haben dazu beigetragen. Ich habe inzwischen ein sehr gutes Bild und weiß, wo wir ansetzen müssen.

Ihre Rolle als IT-Vorständin ist die erste ihrer Art in der Autobranche. Spüren Sie denn eine Signalwirkung in die Branche hinein?

Ich spüre in erster Linie eine Signalwirkung innerhalb des eigenen Unternehmens. Auf der einen Seite zeigt die Position klar, welchen Stellenwert IT inzwischen hat. Auf der anderen Seite spüren wir als IT-Organisation eine deutlich gestiegene Erwartungshaltung an uns.

Also keine Rechte ohne Pflichten?

Genau. Natürlich ist die Anerkennung schön, die wir erhalten. Wir spüren, dass IT eine wichtigere Rolle hat als früher. Aber die Erwartungen an Geschwindigkeit, Bereitstellung neuer Lösungen und Kundennähe sind definitiv ebenfalls größer geworden.

Geschwindigkeit ist ein gutes Stichwort. Die wird nämlich der Autobranche in Sachen Digitalisierung häufig nicht attestiert. Wie wollen Sie mehr Speed in die Transformation bringen?

Wir brauchen vor allem eine neue Sicht auf Technologie. Wir kommen aus einer Welt, in der die Entwicklung eines Fahrzeugs mehrere Jahre dauert. Bei Software beginnt man mit einem MVP und entwickelt das Produkt sukzessive weiter. So müssen wir grundsätzlich Projekte angehen: kurze Zyklen, Drei-Monats-Sprints mit klaren Zielen. So bekommt man viel mehr Geschwindigkeit in die Digitalisierung. Ein anderer Punkt ist unsere Systemlandschaft. Wir haben so viele gute Ideen und IT-Lösungen über alle unsere Marken hinweg, aber wir nutzen diese Synergiepotenziale noch nicht konsequent genug aus. Da müssen wir uns noch deutlich stärker miteinander austauschen. Zu guter Letzt bin ich ein großer Freund von Eigenleistung in wichtigen Themenfeldern. Typisch für die Autoindustrie ist ein Modell, bei dem sehr oft und in großem Umfang externe Unternehmen beauftragt werden. Wir müssen uns aber in geschäftskritischen Feldern deutlich stärker selbst engagieren, Knowhow aufbauen und in anderen Themenbereichen neue Partnerschaftsmodelle etablieren.

All das gehen Sie mit der New-IT-Strategie an. Würden Sie uns die Eckpfeiler skizzieren?

Auf der Basis der Erkenntnisse unserer umfassenden Bestandsaufnahme haben wir Handlungsfelder abgeleitet. Eines ist der Balanceakt zwischen Synergien und Kosteneffizienz auf der einen Seite und Schnelligkeit sowie Flexibilität auf der anderen Seite. Historisch betrachtet wurde viel Wert auf Synergien gelegt, leider nicht selten zulasten der Geschwindigkeit. Hier müssen wir dringend austarieren. Zudem möchten wir uns genau anschauen, wie zukünftig Business und IT zusammenarbeiten. Wir werden uns deutlich stärker in die Richtung von Produktteams orientieren, bei denen die Fachbereiche und die IT gemeinsam auf Augenhöhe an Lösungen arbeiten. Darauf freut sich die Organisation, ich spüre richtige Aufbruchsstimmung. Ein weiterer Eckpfeiler von New IT ist der Umgang mit komplexen, monolithischen Systemlandschaften. Da müssen wir auf eine in der Cloud verankerte Plattformstrategie umschwenken. Die digitale Produktionsplattform DPP zeigt an der Stelle schon anschaulich, wo die Reise hingeht. Und nicht zuletzt wollen wir unsere Eigenleistungsquote erhöhen. Übrigens auch, damit wir attraktiv bleiben für junge IT-Talente.

Sie haben die Legacy-IT angesprochen: So einfach lassen sich in einem Großkonzern wie Volkswagen sicherlich nicht alte Zöpfe abschneiden, oder?

Diese Applikationen haben in der Vergangenheit einen sehr wichtigen und guten Dienst für unser Unternehmen geleistet – und tun das auch heute noch. Darauf können wir als Volkswagen auch stolz sein. Wir haben eine sehr hohe Verfügbarkeit, das ist ein Asset. Auf der anderen Seite sind diese Applikationen im Handling sehr aufwendig und meist auch nicht in der nötigen Geschwindigkeit anpassbar. Deshalb werden wir sukzessive, wenn wir neue Anwendungen entwickeln, auf ein Plattformkonzept wechseln und dann schrittweise alte Applikationen abschalten.

Mit diesem neuen Konzept werden valide Daten immer wichtiger …

Sie sagen es. Wir nutzen den Schatz, auf dem wir sitzen, noch nicht konsequent genug. Auch dafür haben wir in unserer Strategie Initiativen formuliert, um wertvolle Informationen gewinnbringender einzusetzen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Frank Loydl (Audi-CIO, Anm. d. Red.) arbeitet mit seinem Team gerade an unserer Group Engineering Platform: einer Datenplattform als Basis, auf der die weiteren Systeme aufbauen. Damit sind alle Informationen für alle am Prozess beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam nutzbar. Das ist für uns eine neue Herangehensweise.

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Stars: „Ich habe ein IT-Management-Team um mich herum aufgebaut, das sich intensiv austauscht. Mir war es wichtig, ein kleines, schlagkräftiges Team zu haben, das wie der Konzernvorstand auch Entscheidungen treffen und schnell umsetzen kann." (Bild: Claus Dick)

Wie eng ist Ihr Austausch mit den Marken-CIOs?

Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. Wir sind uns alle einig, dass wir enger zusammenrücken müssen. Zwar bleiben die CIOs auch künftig disziplinarisch in ihren Marken und Regionen verankert, inhaltlich sind sie allerdings nun stärker miteinander verbunden, berichten fachlich an mich. Das gab es in der Vergangenheit so nicht. Ich habe zudem ein IT-Management-Team um mich herum aufgebaut, das sich intensiv austauscht. Mir war es wichtig, ein kleines, schlagkräftiges Team zu haben, das wie der Konzernvorstand auch Entscheidungen treffen und schnell umsetzen kann.

Schwenken wir von den arrivierten IT-Kräften zu den neuen: Talententwicklung liegt Ihnen am Herzen. Wie stellen Sie sicher, dass die Group-IT von Volkswagen ein attraktiver und inspirierender Arbeitgeber für junge IT-Talente ist und bleibt?

Ich habe die Vision, dass IT-Talente sagen: „Um bei einem Technologieunternehmen zu arbeiten, muss ich nicht ins Silicon Valley gehen, ich kann auch zu Volkswagen.“ Ich bin mir sicher, dass die Autobranche mit emotionalen Produkten und einer tragenden Rolle für eine nachhaltigere Zukunft sehr attraktive Karrieremöglichkeiten bietet – auch in Sachen Purpose. Aber wir müssen noch näher an die Talente heran, müssen unsere Recruitingprozesse vereinfachen. Da haben wir noch Nachholbedarf. Was wir bereits sehr schnell umgesetzt haben und was mir enorm wichtig ist: Wir haben die Fachkarriere für ITler eingeführt. In der Tech-Branche ist das weit verbreitet, bei Volkswagen gab es das in der Form noch nicht. Das war ein großer Wunsch der IT-Organisation. Somit kann man nun auch als Fachexperte Karriere machen und Positionen erreichen, die in Hierarchie und Vergütung den entsprechenden Managementpositionen gleichgestellt sind.

Sie haben vorhin von der Arbeit in Sprints und Produkt­organisationen gesprochen. Spielen diese Punkte heute auch für die Motivation von IT-Talenten eine Rolle, die mehr und mehr nach dem Sinn und Zweck ihrer Arbeit fragen?

Ganz sicher sogar. Die jungen Talente wollen keine ewig langen Projekte. Die kommen aus einer Welt, in der man sehr schnell Ergebnisse liefert und diese dann auch feiert. Die wollen den Elefanten in Scheiben schneiden, wie man gerne sagt (lacht). Das macht den Talenten Spaß – und das macht auch uns Spaß. Wir praktizieren das auch schon in einigen Bereichen, in denen wir agiles Arbeiten eingeführt haben.

Dennoch ist der War for Talents Realität und Unternehmen können kaum ausreichend IT-Spezialisten bekommen, um die digitale Transformation zu meistern. Wie stehen Sie einer Demokratisierung von Software und Tools gegenüber?

Sie spielen auf Low Code und vergleichbare Konzepte an. Auch das treiben wir proaktiv voran. Ich sehe darin eine sehr reelle Chance, deutlich schneller und flexibler zu werden und die Fachbereiche stärker mit einzubeziehen.

Haben Sie keine Angst vor Schatten-IT?

Wir haben effektive eGovernance-Strukturen geschaffen, um dies zu vermeiden. Diese richten sich nach der Größe der programmierten Anwendung: Kleinste Programme, die nur wenige Personen nutzen, können direkt erstellt werden. Bei größeren Anwendungen und mehreren beteiligten Fachbereichen müssen IT-Spezialisten eingebunden werden, allein schon, damit entsprechende Supportstrukturen aufgebaut werden können. Man muss das Thema Schatten-IT immer im Blick haben. Ich glaube aber, dass wir eine sehr gute Aufstellung gefunden haben.

Lassen Sie uns noch über das Thema Eigenleistung sprechen. Welche Quoten streben Sie in wichtigen Technologiebereichen an?

Lassen Sie mich Ihnen dafür erst einmal eine Größenordnung geben: Wir geben rund 5,4 Milliarden Euro jährlich für IT aus. Diese Umfänge können wir unmöglich allein aus der Organisation heraus stemmen. Mein Fokus liegt deshalb auf unternehmenskritischen Bereichen, in denen wir eine hohe Eigenleistungsquote brauchen – und zwar mindestens 50 Prozent. Wir sind gerade dabei, diese Bereiche zu definieren. In jedem Fall betrifft es Themen rund um die Homologation. So nah am Auto und an der Technik müssen wir unsere eigenen Kolleginnen und Kollegen haben. Aber auch im Vertrieb sehe ich Felder – vor allem wenn man an den direkten Kontakt mit dem Kunden denkt –, in denen wir zukünftig eine Führungsrolle einnehmen müssen und daher eigenes Knowhow brauchen.

Audi stärkt die Eigenleistung auch über die Gründung von Joint Ventures mit IT-Dienstleistern. Ist das für Sie ein Modell, das im Konzern Schule machen könnte?

Das schauen wir uns genau an. Ich bin sehr froh, dass Frank (Loydl, Anm. d. Red.) das so proaktiv treibt. Nach allem, was ich bisher sehe, funktioniert diese Zusammenarbeit sehr gut. Es ist eine interessante Möglichkeit, eine größere Talentbasis aufzubauen. Wir beobachten das jetzt bis ins kommende Jahr hinein und entscheiden dann, wie wir weiter damit umgehen wollen. Grundsätzlich müssen wir in der Lage sein, verschiedene Zusammenarbeitsmodelle zu leben: Themen komplett selbst übernehmen, gemeinsam mit Partnern managen oder auch mal fremdvergeben. Andere Industrien praktizieren das schon sehr gut. Von diesen können wir lernen.

Zum Abschluss: Angenommen, wir würden uns in einem Jahr wieder zum Interview treffen, wie würden Sie dann auf die Frage antworten, was Sie in der Zwischenzeit erreicht haben?

Ich hoffe, dass wir in einem Jahr sehr viel flexibler geworden sind und schneller Ergebnisse liefern können. Bis dahin sollten wir auch die Produktorganisation in den wichtigsten Bereichen eingeführt haben. Außerdem möchte ich bei unserer Infrastruktur die wesentlichen Schritte auf dem Weg zum Plattformgedanken gemacht haben. Und wenn wir dann noch tolle neue Kolleginnen und Kollegen eingestellt und unsere bestehenden Teams weiterentwickelt haben, dann können wir denke ich mit Fug und Recht behaupten, New Auto durch New IT nicht nur zu ermöglichen, sondern auch deutlich voranzubringen. Wenn wir das alles erreicht haben, dann wäre ich wirklich zufrieden.

Volkswagen Hauke Stars Portrait

Hauke Stars

Seit Februar 2022 verantwortet Hauke Stars als Mitglied des Vorstands der Volkswagen AG den Geschäftsbereich IT und Digitalisierung. Stars begann ihre Laufbahn Anfang der 90er Jahre im IT-Bereich von Bertelsmann. 1998 wechselte sie zum IT-Dienstleister Triaton. Dort war sie für die Softwareentwicklung und ab 2000 als Mitglied der Geschäftsführung für Vertrieb und Marketing verantwortlich. Nach Übernahme durch Hewlett-Packard verantwortete Stars das IT-Service-Geschäft von HP in den Niederlanden, bis sie 2007 Geschäftsführerin für die Schweizer Landesorganisation wurde. Von 2012 bis 2020 war Stars Mitglied des Vorstands beim DAX-Konzern Deutsche Börse AG, wo sie für IT, Kapitalmarktgeschäft und Personal zuständig war. Darüber hinaus ist die Technologie- und Finanzmarktexpertin seit 2009 als Aufsichtsrätin aktiv. Hauke Stars studierte Angewandte Informatik an der Technischen Universität in Magdeburg und schloss ein weiteres Studium in England mit einem Master of Science in Engineering ab.

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