
OEMs setzen auf neue Modelle zwischen digitaler Steuerung und persönlichem Kontakt. (Bild: Mercedes-Benz)
Über Jahrzehnte folgte der Automobilvertrieb einem klaren Prinzip: Hersteller produzierten, Händler kauften auf eigenes Risiko und verkauften mit Gewinn. Dieses klassische Handelsmodell prägte das Markenbild im öffentlichen Raum – mit regionaler Präsenz, lokaler Verantwortung und eigenständiger Preisgestaltung. OEMs konzentrierten sich auf Produktentwicklung und Marketing, die Kundenschnittstelle lag dezentral beim Handel – fernab von digitaler Steuerbarkeit. Dieses Modell war erfolgreich in einer Zeit, in der physische Nähe, sofortige Verfügbarkeit und persönliche Beratung Kaufentscheidungen prägten.
Doch die Spielregeln haben sich geändert: Elektromobilität, vernetzte Fahrzeuge und digitale Touchpoints verlangen nach neuen Antworten. Der Vertrieb wird zur strategischen Steuerzentrale – denn wer den Kundenzugang kontrolliert, gewinnt Einfluss auf Daten, Marge und Markenbindung. Deshalb stellen viele OEMs ihre Vertriebslogik grundlegend um. Im Zentrum steht das Agenturmodell, in dem der Händler nicht mehr auf eigene Rechnung agiert, sondern im Auftrag des Herstellers vermittelt. Die Preisgestaltung liegt beim OEM, kanalübergreifend gelten einheitliche Angebote – egal ob online oder im Showroom. Damit gewinnen Hersteller Transparenz, Kontrolle und direkten Zugang zum Kunden. Doch der Umbau ist komplex. IT-Systeme müssen integriert, Partnerverträge überarbeitet und Händlerrollen neu definiert werden – vom Verkäufer zum Erlebnisgestalter. Fragen zur Rentabilität stationärer Flächen, zu hybriden Kundenreisen oder zur Skalierbarkeit internationaler Roll-outs rücken in den Fokus.
Mercedes beantwortet den Wandel mit Agenturstruktur
Bereits im Jahr 2021 haben alle 98 Mercedes-Benz Partner die Verträge für ein neues Agenturmodell in Deutschland unterzeichnet. Am 31. Mai 2023 schließlich verkündete der Automobilhersteller die „Einführung des echten Agenturmodells“ im Heimatmarkt sowohl für seine Pkw- als auch die Van-Modelle. Zu diesem Zeitpunkt hatte der OEM den Direktvertrieb bereits in acht anderen Märkten umgesetzt. Die spezifische Form des Direktvertriebs biete zahlreiche Vorteile für die Kunden, heißt es beim Hersteller. Zu ihnen zählt Mercedes zufolge vorrangig eine volle Preis- und Kostentransparenz über alle Vertriebskanäle hinweg.
Zudem spricht man von voller Angebotstransparenz wie auch davon, dass Käufer garantiert jederzeit den besten Preis erhalten - online wie offline. Jörg Heinermann, Ex-Leiter des Mercedes-Benz Cars Vertrieb Deutschland, sprach zur Einführung von „unserer Antwort auf den signifikanten gesellschaftlichen und technologischen Wandel und die damit verbundenen Herausforderungen in der Automobilindustrie.“ Seit der Einführung soll jeder Mercedes-Benz Vertriebspartner Zugriff auf den gesamten nationalen Fahrzeugbestand von Mercedes-Benz haben, regionale Bestände sollen daher nicht mehr zum limitierenden Faktor werden. Zum Modell zählen feste Provisionen je ausgeliefertem Fahrzeug, unabhängig davon, ob der Verkauf im Showroom oder online abgeschlossen wurde.
Parallel dazu entsteht unter dem Namen „Mercedes-Benz Omnichannel Commerce“ (MBOC) ein integriertes System, das dem Kunden erlauben soll, nahtlos zwischen Online- und Offlinewelt zu wechseln – von der Konfiguration über die Bestellung bis hin zum Vertragsabschluss. Möglich mache das unter anderem die zentrale Mercedes me ID, über die Kunden auf alle Angebote und Services zugreifen können. Die Fortschritte zeigen Wirkung: In einer Studie der Unternehmensberatung BearingPoint wurde Mercedes-Benz als führender Anbieter im globalen Onlinevertrieb eingestuft. Besonders hervorgehoben wurde dabei die durchgängige digitale Customer Journey, die Mercedes seinen Kunden inzwischen biete. Bis 2025 strebt das Unternehmen an, rund ein Viertel aller Fahrzeugverkäufe weltweit über digitale Kanäle abzuwickeln.
BMW treibt digitalen Wandel im Vertrieb voran
BMW stellt den Vertrieb seiner Stammmarke in Europa ab 2026 auf das Agenturmodell um – Mini dient dabei als Blaupause. In Deutschland wird das neue Modell bereits seit Januar 2024 für Mini umgesetzt: Einheitliche Preise, digital gestützte Kaufprozesse und ein nahtloses Zusammenspiel zwischen Online- und Offline-Kanälen prägen das Konzept. Auch sogenannte „junge Gebrauchte“ sind integriert. Ziel ist ein Kundenerlebnis, das über alle Touchpoints hinweg konsistent und intuitiv funktioniert.
Die Händler bleiben zentrale Anlaufstellen, übernehmen aber eine neue Rolle als Agenten. Sie erhalten eine feste Vergütung pro verkauftem Fahrzeug – unabhängig vom Vertriebskanal. Damit einher geht eine bessere Planbarkeit, mehr Fokus auf Beratung und Markenerlebnis sowie ein vereinheitlichter Zugang zum Fahrzeugbestand. Im Zentrum steht die Vision, dem Kunden die Wahl zu lassen: Beratung im Autohaus oder Abschluss auf der Couch – alles soll möglich sein, ohne Medienbruch. Technologisch wird das durch eine tiefgreifende Transformation flankiert. Unter der Leitung von Peter Henrich (Head of The New Retail) und René Wies (VP IT Customer, Brand and Sales) wurde ein übergreifendes Plattformmodell etabliert, das bestehende Systeme wie Salesforce, SAP und Adobe bündelt. Eine zentrale Customer-ID und Fahrzeug-ID vernetzen Konfiguration, Probefahrt und Bestellung kanalübergreifend. Der Konfigurator sieht im Web und im Handel identisch aus – QR-Codes verbinden die Systeme.
Im Hintergrund laufen massive IT-Arbeiten: Über 700 Anwendungen wurden analysiert, harmonisiert oder abgeschaltet, 24 Märkte in das neue System überführt. Künstliche Intelligenz hilft bei Konfiguration und Preisgestaltung. Für BMW ist das Projekt eines der größten seiner Geschichte – und wird auch von den Partnern zunehmend als Fortschritt begrüßt. Bei aller Digitalisierung gehe man jedoch davon aus, dass auch zukünftig der persönliche Kundenkontakt stark nachgefragt werde, heißt es bei BMW. Daher komme den Handelspartnern auch weiterhin eine zentrale Rolle zu.
Volkswagen prüft temporäre Rückkehr zum indirekten Vertrieb
Volkswagen verfolgt einen mehrstufigen Weg in Richtung Direktvertrieb. Bereits seit 2022 können Kunden in Deutschland Leasingverträge für frei konfigurierbare Modelle der ID.-Familie – etwa ID.4 und ID.5 – vollständig online abschließen. Der Konzern bezeichnet das als wichtigen Meilenstein innerhalb der Digitalstrategie Accelerate. Der gesamte Prozess – von Konfiguration über Leasing-Optionen bis zur digitalen Authentifizierung und Vertragsunterzeichnung – erfolge dabei komfortabel über PC, Tablet oder Smartphone. Ziel ist auch bei diesem OEM ein nahtloses Omnikanal-Erlebnis: Der Online-Vertrieb soll den stationären Handel auf diesem Wege nicht ersetzen, sondern ergänzen. Die Händler bleiben daher weiterhin organisatorisch wie finanziell eingebunden – sie beraten, bieten Probefahrten an und begleiten die Auslieferung.
Volkswagen reagierte damit auf eine klare Kundenerwartung: „Rund zwei Drittel unserer Kundinnen und Kunden wünschen sich laut Umfragen, unsere Fahrzeuge auch online erwerben zu können. Diesem Wunsch kommen wir jetzt nach. (...) Damit stärken wir auch unsere Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig", kommentierte der ehemalige Vertriebsvorstand Klaus Zellmer. Gleichzeitig verfolge der Konzern langfristig das Ziel eines Direktvertriebsmodells mit Vollagentur – also mit direkter Vertragsbeziehung zwischen Hersteller und Kunde. Aktuell wird dieses Modell bereits in Irland und Schweden umgesetzt; die Marke Cupra nutzt es für alle BEVs.
Allerdings stoße der parallele Betrieb zweier Vertriebsmodelle – Agentur für E-Autos, klassisches Modell für Verbrenner – an organisatorische Grenzen. Deshalb prüft Volkswagen derzeit gemeinsam mit Handelsorganisationen in fünf Schlüsselmärkten, darunter Deutschland, Frankreich und UK, ob eine temporäre Rückkehr zum indirekten Vertrieb für BEVs sinnvoll sein könnte. Die anderen Marken, die derzeit das BEV-Agenturmodell betreiben, namentlich Volkswagen Pkw, Volkswagen Nutzfahrzeuge, Škoda und Audi sollen ebenfalls am Überprüfungsprozess teilnehmen.