Herr Buresch, Sie sind seit Anfang des Jahres CIO der BMW Group. Wie fällt Ihr Zwischenfazit aus?
Ich habe ein tolles Team übernommen. Die IT der BMW Group ist sehr solide aufgestellt. Dennoch gibt es Bereiche, in denen wir uns verbessern können. Gemeinsam haben wir einen 100-Tage-Boost durchlaufen, um zu sehen, an welchen Stellen wir noch Potenziale heben können. Digitalisierung steht natürlich an erster Stelle. Durch die Coronakrise ist die Bedeutung des Themas jetzt auch im letzten Winkel des Unternehmens angekommen. Die vollständige digitale Durchdringung aller Geschäftsprozesse bietet enorme Chancen. Wir setzen auf eine tief ins Unternehmen integrierte IT-Organisation und folgen dem Gedanken: „IT is Business and Business is IT“. Aufgrund der Technologieentwicklung, die wir in den letzten Jahren gesehen haben, werden offene Plattformen bei BMW an Stellenwert gewinnen. Unsere Architekturen müssen offen und plattformorientiert sein, damit wir über die Konsolidierung unser IT-Landschaft eine höhere Flexibilität und Kundenwirksamkeit erreichen. In Sachen Innovationen wollen wir uns so aufstellen, dass wir Potenziale in Sachen KI, Machine Learning, Blockchain oder Edge Computing möglichst schnell industrialisieren. Ein weiterer Punkt ist die Stringenz, mit der wir Großprojekte im Unternehmen fahren, etwa die SAP-Transformation. Und auch die Suche nach Top-IT-Talenten wird uns natürlich weiterhin beschäftigen.
Gestatten Sie die Nachfrage: BMW ist bereits ein digitales Unternehmen oder soll zu einem Digitalunternehmen werden?
Ich sage, dass wir heute schon ein digitales Unternehmen sind. Aber die Durchdringung nimmt natürlich weiter zu. Die Digitalisierung findet über die gesamte Wertschöpfungskette statt: Von der Entwicklung über die Produktion, den Einkauf, den Vertrieb, hinein in unser Lieferantennetzwerk und bis hin zum Kunden – alles wird zu einer integrierten, digitalen Welt.
Wie groß ist die Bereitschaft in den Fachbereichen, eng mit der IT zusammenzuarbeiten? Gibt es noch Abstimmungsbedarf?
Wir sind bereits gemeinsam unterwegs und die Bereitschaft einer noch engeren Zusammenarbeit ist auf beiden Seiten extrem hoch. Hier gab es regelrecht einen Pull-Effekt, der sich durch die Corona-Pandemie noch einmal deutlich verstärkt hat. Überall ist das Verständnis da, dass wir nur gemeinsam die Digitalisierung im Unternehmen angehen und damit unsere Ziele erreichen können.
Das Stichwort Corona ist bereits mehrfach gefallen. Die Pandemie hat sicherlich auch Ihre Arbeitswelt auf den Kopf gestellt. Mit welchen Aufgaben sah sich die IT in der Phase des Lockdowns konfrontiert?
Wir orientierten uns frühzeitig daran, was im Reich der Mitte während der Hochphase der Pandemie zum chinesischen Neujahrsfest passiert ist. Ich stand im engen Kontakt mit dem IT-Leiter unseres Joint Ventures BMW Brilliance. Wir konnten frühzeitig Learnings ziehen und genügend Homeoffice-Kapazitäten für die europäischen BMW-Standorte schaffen. Wir haben zum Beispiel einen zweiten Skype-Server aufgebaut, Microsoft Teams im Konzern weiter gestärkt und die weltweiten VPN-Knoten geöffnet, um den globalen Informationsaustausch zu stärken. Auch die Netzwerkbandbreite und operativen Prozesse wurden sukzessive an die neue Situation angepasst – so konnte BMW der Lockdown-Phase Mitte März gut vorbereitet begegnen. Während des Lockdowns haben wir über 74.000 Mitarbeitern ermöglicht, ohne Einschränkungen von zuhause aus zu arbeiten – bis zu 55.000 waren gleichzeitig online. Bis zu 7.000 parallele Skype-Meetings und schlussendlich die virtuelle BMW-Hauptversammlung Mitte Mai haben gezeigt, dass wir es verstehen, verantwortungsbewusst mit der Situation umzugehen.
Während des Shutdowns wurde die Produktion bei BMW komplett heruntergefahren. Hatte die IT in dieser Phase denn Zeit, um langfristige Projekte umzusetzen, die sonst im Tagesgeschäft eher eine untergeordnete Rolle spielen?
Ja, trotz Homeoffice haben wir beispielsweise in der Entwicklung ein umfangreiches Release durchgezogen. So ein Projekt mit einem großen Team komplett von zuhause aus zu bewältigen, war wirklich spannend. In den Werken haben wir uns zudem unter anderem mit Hardware- und Wartungsthemen auseinandergesetzt, die sich im normalen Tagesgeschäft nicht so einfach umsetzen lassen. Insgesamt haben wir die Zeit auch dafür genutzt, um die Themen schnell auf die Straße zu bringen, die uns in und vor allem nach der Coronakrise nach vorne bringen, beispielsweise im Vertrieb das Thema Digital Sales. Auch haben wir die Zeit für Qualifizierungen genutzt und das entsprechende Online-Trainingsangebot intensiviert.
Welchen Einfluss hat die Coronakrise auf die IT-Budgets? Gehen Sie davon aus, dass sie künftig steigen oder wird der Rotstift angesetzt?
Wir haben da eine sehr differenzierte Sicht. Im ersten Schritt wollen wir vor allem das Mengenwachstum, zum Beispiel in der Infrastruktur, stärker kontrollieren. Dazu brauchen wir eine Mengensteuerung und keine Budgetkürzungen. Es gibt sicherlich Themen, bei denen die Budgets heruntergefahren werden – gleichzeitig aber konsequent in neue Digitalisierungsthemen investiert wird. Wir investieren gezielt in Zukunftsprojekte und möchten als Unternehmen insgesamt gestärkt aus der Coronaphase hervorgehen. Wie gesagt: Es hat sich herausgestellt, dass das Virus der Digitalisierung einen kräftigen Schub gegeben hat. Dieses Momentum werden wir nutzen.
BMW hat bereits 2016 die mutige Entscheidung getroffen und zu hundert Prozent auf Agilität gesetzt. Aus Ihrer Sicht: Hat sich diese Strategie bezahlt gemacht?
In Summe ist agiles Arbeiten heute in den Software- und IT-Bereichen bei BMW Standard. Es sollte kein Projekt mehr geben, das nicht agil arbeitet. Wir sind schnell, flexibel und haben dank dieser Methoden auch die Zusammenarbeit zwischen Fachabteilung und IT nachhaltig gestärkt. Aus unserer Sicht ist das Thema sehr erfolgreich. Nichtsdestotrotz gibt es Bereiche, in denen wir uns noch weiterentwickeln werden. Zum Beispiel in Großprogrammen, die über viele Geschäftsprozesse gehen und viele Produkte und Domains betreffen. Diese müssen immer noch so koordiniert werden, dass sie zu einem gewissen Zeitpunkt den Leistungsstand der Projekte korrekt abbilden. Deswegen haben wir uns entschlossen, dass wir die agilen Arbeitsmethoden weiterentwickeln und sogenannte Meilensteine einführen, an denen die Scrum- und die Feature-Teams zusammenkommen. Wir schneiden größere Initiativen in möglichst kleine Bausteine, um sie agil bearbeiten zu können. In unseren agilen Feature-Teams und Produkten wird der Betrieb zudem durch eine stärkere personifizierte Verantwortung weiter optimiert.
In den Fachbereichen ist die Nachfrage nach IT ja ungebrochen. Bedienen Sie diese zentral aus dem IT-Zentrum hier in München oder sitzt die Kompetenz auch in den Werken?
Sowohl als auch, aber auch in den Märkten. Aus dem ITZ liefern wir mit rund 2.800 Mitarbeitern IT-Leistungen für die großen Prozesse und haben hier gute Möglichkeiten und Projektflächen, um mit den Fachbereichen zusammenzuarbeiten. Gleichwohl sitzen wir auch mit Einheiten in den Werken und den Märkten und treiben direkt vor Ort Projekte voran. Wir haben in den letzten Jahren vor allem in sogenannte DevOps-Hubs investiert: Standorte, an denen wir uns auf reine Softwareentwicklung fokussieren, beispielweise in unserem Joint Venture Critical TechWorks in Portugal oder auch in Südafrika.
Software ist ein wichtiges Thema für die Branche geworden. Wir sprechen inzwischen von softwaredefinierten Fahrzeugen und von Software, die das Kundenerlebnis steigert. Welche Pläne verfolgt BMW?
Grundsätzlich kann ich sagen, dass wir das Thema Eigenknowhow in der Softwareentwicklung sehr ernst nehmen und hier auch selber ausbilden. Wir haben mittlerweile im Umfeld von Data Analytics über 5.000 sogenannte Data Stewards geschult. Dabei handelt es sich um Daten-Owner im Fachbereich, die selber Reports generieren können, Daten verknüpfen und eng mit der IT sowie Lieferanten an neuen Lösungen arbeiten. Für BMW ist es sehr wichtig, dieses Knowhow in die gesamte Mannschaft zu tragen. Liegt IT-Verständnis in den Fachbereichen vor, erleichtert das die Zusammenarbeit mit der IT ungemein. Wir bilden unsere IT-Mitarbeiter in Richtung Softwareentwicklung und Software Engineering konsequent aus, haben auch das Thema Selfservice fest in der BMW-Strategie verankert. Die IT sowie digitale Produkte und Services spielen eine zentrale Rolle für das Kundenerlebnis – sowohl im als auch außerhalb des Fahrzeugs.
Herr Buresch, Sie haben die Inhouse-Expertise angesprochen. Nun gewinnt der Open-Source-Ansatz ja immer weiter an Bedeutung. BMW hat unter anderem KI-Algorithmen auf der Plattform GitHub geteilt. Welchen Stellenwert messen Sie offenem Quellcode bei?
Bei bestimmten Anwendungsfällen, beispielsweise im Big-Data- oder KI-Umfeld, sehen wir große Vorteile in der Nutzung von Open-Source-Lösungen und der aktiven Teilnahme an der Open-Source-Community. Auch der Betrieb in der Cloud birgt für uns große Chancen. Wir wollen Open Source aber primär intern nutzen und über Werke und Märkte gemeinsame Lösungen schaffen.
Dass sich Microsoft GitHub einverleibt hat, bereitet Ihnen keine Bauchschmerzen?
Nein, wir arbeiten auch an anderer Stelle eng mit Microsoft zusammen, zum Beispiel sind wir gemeinsam im Steering Committee der Open Manufacturing Platform vertreten. Von daher gibt es keine Berührungsängste. Grundsätzlich haben wir den Weg eingeschlagen, solche offenen Plattformen zu unterstützen, Software zu teilen und neue industrieübergreifende Standards zu definieren. Jüngst haben wir uns auch dem europäischen Cloudprojekt Gaia-X angeschlossen, weil wir sehen, wie wichtig offene Standards sind.
Zum Schluss: Die Komplexität in der Automobilindustrie nimmt augenscheinlich immer weiter zu. Welche Ansätze sehen Sie, um mit Informationstechnologie gegensteuern zu können?
Das Auto ist ein vielschichtiges Industrieprodukt und emotionales Meisterstück. Die Komplexität haben wir im Griff, indem wir zum Beispiel auf die richtigen Architekturen setzen. Auf der einen Seite beherrschen wir die Komplexität, auf der anderen Seite stellen wir uns flexibel auf. Wir verfolgen eine klare Plattformstrategie, um neue Anforderungen in Services zu konsolidieren und die alte Welt über Integrationsplattformen zu kapseln. Diese Zielbilder werden wir konsequent in allen Bereichen umsetzen, um die Digitalisierung zu beschleunigen.
Zur Person:
Alexander Buresch ist Jahrgang 1967 und hat einen Abschluss als Diplomökonom der Universität Hohenheim mit den Schwerpunkten Wirtschaftsinformatik, Controlling und Außenwirtschaft. Er kam im Jahr 1998 zur BMW Group und leitete – nach Stationen bei der BMW Bank GmbH und BMW Financial Services – die globalen Finanzsysteme sowie die IT-Strategie und Governance-Funktion. Ab 2011 verantwortete er den Bereich Strategie und Joint Ventures Region China. Seit dem 1. Januar 2020 ist Alexander Buresch CIO und Senior Vice President der BMW Group-IT.