Ein Mercedes-Benz und ein Abbild dessen in einem Cluster, um den Digital twin zu illustrieren.

Ein Digtital Twin umfasst alle Daten, die während des Produktzyklus generiert werden. (Bild: Andreas Croonenbroeck)

Was ist ein Digital Twin?

Ein digitaler Zwilling in der Autoindustrie ist die Summe aller Daten, die für und von einem Fahrzeug erzeugt werden – angefangen bei den CAD-Informationen aus der Entwicklung über Algorithmen, die das Straßenverhalten beschreiben, bis hin zu den Teilelisten und aktuell laufenden Softwareversionen. Alle diese Daten zusammengenommen ermöglichen es einem Hersteller, mit jedem einzelnen Auto zu arbeiten, noch bevor es am Fließband montiert wird. Der Schlüssel dazu liegt in einer effizienten Verwaltung der Produktdaten.

Auch für Unternehmen in der Automobilindustrie stellt sich heutzutage nicht mehr die Frage, ob sie mit Big Data arbeiten wollen. Längst müssen sie alle Hebel in Bewegung setzen, um beispielsweise Daten aus Entwicklung und Produktion sinnvoll zusammenzubringen. Eine durchgängige Zusammenarbeit ist meistens nicht gegeben.

Es existieren einfach zu viele Systeme – geschuldet einer historisch gewachsenen Legacy-Welt, einem weit verbreiteten Best-of-Breed-Ansatz und der Tatsache, dass die einzelnen Lösungen nicht über die integrative Funktionalität verfügen, die heute gewünscht und tatsächlich erforderlich ist.

Abbild des gesamten Produktzyklus

Daimler zum Beispiel arbeitet im Rahmen der Initiative „PDM 2020“ mit Hochdruck daran, unterschiedliche IT-Backendsysteme so zu verknüpfen, dass sich der Informationsfluss wie ein roter Faden durch die heterogene Datenbankeninfrastruktur zieht.

Erklärtes Ziel: Für jedes ausgelieferte Fahrzeug soll es künftig einen digitalen Zwilling geben. Mit einem rundum neu gedachten Produktdatenmanagement wollen die Stuttgarter eine durchgängige, integrierte Beschreibung der Produktstruktur aller Fahrzeuge bereitstellen, inklusive Hardwarekomponenten und Software.

„Dabei wird der gesamte Product Lifecycle betrachtet, von der Entwicklung über die Produktion bis hin zum Sales- und Aftersales-Bereich“, heißt es in der Abteilung ITI/EE, die für die IT-Infrastruktur und das IT-Operations Engineering verantwortlich zeichnet.

Integration der digitalen Welt

Künftig wird mit Auftragseingang und Bestellung eines Mercedes-Benz systemseitig ein digitaler Zwilling generiert, der bis zur Verschrottung des Fahrzeugs aktuell bleiben soll. Beim Aufbau der IT-Infrastruktur müssen vorhandene Backendsysteme wie Smaragd, SRM oder Dialog gekoppelt und die Daten über eine innovative Data-Layer-Schicht für die jeweiligen Prozessanforderungen weltweit aktuell und performant zur Verfügung gestellt werden.

„Mir ist die durchgängige Kette des digitalen Zwillings wichtig“, betont Daimler-CIO Jan Brecht gegenüber automotiveIT. Klar geht es zunächst einmal darum, die Fahrzeuge digital abzubilden, ihre geometrischen Eigenschaften und Funktionalitäten vollständig zu erfassen.

„Denkt man aus der Fahrzeugentwicklung weiter in die Produktion hinein, kann man sich zum Beispiel vorstellen, dass sich physische Maschinen, Anlagen und Werkzeuge irgendwann einmal wie eine Art Gipsabdruck um den digitalen Fahrzeugzwilling herum legen und selbstständig planen. So weit sind wir noch nicht, aber die Integration funktionaler, digitaler Welten in reale Fabrikaufbauten ist für mich eine logische Konsequenz“, so Brecht.

Einbindung der Händler

Die Kernsysteme in der MBC-Fahrzeugentwicklung werden nicht von Grund auf neu programmiert, sehr wohl aber durch Microservices ertüchtigt. Über eine Art Steckerleiste mit definierten Schnittstellen lassen sich die Backendsysteme zielgerichtet ansprechen und mobile Apps mit entwicklungs- und produktionsrelevanten Daten füttern.

Dank der Tiefenintegration in einem Drei-Schicht-Modell stehen Prozesssteuerungsdaten künftig in rollenbasierten Cockpits zur Verfügung, egal aus welchem vorgelagerten System sie stammen: Forschung und Entwicklung, Fertigung und Vertrieb, alle Fachbereiche sind an Bord.

Der Knackpunkt lautet: Nicht nur Daimler-interne Teams sollen den PDM-Schatz heben und hüten, sondern zum Beispiel auch die über die ganze Welt verteilten Mercedes-Benz-Händler. Deshalb muss die Lösung unter allen Umständen einfach zu bedienen sein, an der Datenqualität wird kontinuierlich gefeilt.

Eine kulturelle Aufgabe

Auf den ersten Blick mag es vielleicht simpel klingen: Man installiert einen Datensee und überprüft die Informationen, die darin herumschwimmen, regelmäßig. Aber qualitativ hochwertige Daten für alle innerhalb des Unternehmens verfügbar zu machen und so ineffiziente Parallelstrukturen zu beseitigen, ist nicht nur ein technisches Unterfangen, sondern auch eine kulturelle Aufgabe, die nicht unterschätzt werden darf.

Ist der digitale Zwilling erst einmal auf der Welt, wird er schnell Kreise bis in die Reihen der Lieferanten ziehen. Bordnetzhersteller zum Beispiel bauen bereits eigene Systeme auf, um bei den immer komplexer werdenden Kabelbäumen alle Fertigungsschritte lückenlos zu dokumentieren.

Bislang besteht diese Anforderung nicht verbindlich. In einem hochautomatisierten oder gar autonom fahrenden Auto aber zählt der Kabelbaum zu den sicherheitsrelevanten Bauteilen. Werden bei einem Servicetermin in der Werkstatt Änderungen durchgeführt, müsste das in einer digitalen Repräsentanz akribisch nachgeführt werden.

Profil des digitalen Zwillings

„Die Initiative dazu muss klar von den OEMs ausgehen“, sagt Bernd Jost, Geschäftsführer der DiIT GmbH, die auf Manufacturing-Execution-Systeme für die Produktion von Kabelsätzen und Kabelbäumen spezialisiert ist. „Der Einsatz einer integrierten Software zur Steuerung des Produktionsprozesses und zur Dokumentation der Teilschritte erscheint mir im Sinne einer lückenlosen Rückverfolgbarkeit unabdingbar.“

Keine Frage: Je mehr Daten aus dem Produktentstehungsprozess vorliegen, desto besser ist es. Noch existieren keine digitalen Zwillinge von Kabelbäumen, dafür gibt es zu viele Prozessbrüche – sei es bei Übergabe der OEM-Spezifikation an den Tier-1-Lieferanten oder später, wenn Engineeringdaten in die Produktion weitergereicht werden.

Auch in der Fertigung selbst tun sich Wissenslücken auf: Welche Charge Rohmaterial kam zum Einsatz? Welche Teile wurden mit welchen Prozessparametern verbaut? All diese Informationen können helfen, die Qualität des Endprodukts abzusichern und das Profil des digitalen Zwillings zu schärfen. Nicht nur entlang des Entstehungsprozesses bis zur Auslieferung, sondern ein Autoleben lang.

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