Zuletzt kam Ford aus der Deckung. Anfang des Jahres kündigte der OEM an, beim Infotainment künftig auf Googles Android Automotive zu setzen. Ab 2023 will der US-Hersteller das System in „Millionen von Fahrzeugen“ nutzen. Ford reiht sich damit in eine Phalanx aus OEMs ein, die seit 2018 angekündigt haben, beim Infotainment auf Googles Ökosystem umzuschwenken: Volvo, Renault-Nissan-Mitsubishi, General Motors und die Groupe PSA. Wobei noch nicht ganz klar ist, was die Fusion mit Fiat Chrysler zu Stellantis für die Infotainment-Strategie der Groupe PSA bedeutet.
Im immer stärker vernetzten Fahrzeug kommt dem Infotainment eine Schlüsselrolle zu, so McKinsey-Berater Johannes Deichmann: „Letztlich werden hier auch alle Anzeigen von Assistenzsystemen, Karosserie und Lenkung zusammengeführt.“ Durch die Benutzerschnittstelle ist das Infotainment bei allen Softwarefunktionen mit im Spiel. „Allerdings lässt sich das Infotainment bei der Entwicklung auch gut abstrahieren. Man muss zwar beides gleichzeitig denken, kann es aber dann dank definierter Schnittstellen separat entwickeln.“
Unterschied zwischen Android Auto und Automotive
Android Automotive darf nicht mit Android Auto verwechselt werden. Android Auto ermöglicht es – genauso wie Apples CarPlay – Funktionen des Smartphones mit dem Fahrzeug-Infotainment zu nutzen. Das 2017 vorgestellte Android Automotive dagegen macht das Google-Ökosystem im Infotainment verfügbar – in einer individuell angepassten Version. Das Smartphone ist dafür nicht mehr nötig.
Android Auto und Apple CarPlay werden inzwischen von vielen Infotainmentsystemen unterstützt – Android Automotive ist ein anderes Kaliber. In Serienmodellen verfügbar ist es bislang nur bei Volvos Elektromarke Polestar. Das wird sich von diesem Jahr an ändern, falls die OEMs sich an ihre ursprünglichen Ankündigungen halten. Bis spätestens 2023 wollen dann alle eingangs genannten Hersteller Fahrzeuge mit Infotainmentsystemen auf der Basis von Android Automotive auf den Markt bringen.
Druck auf die Autohersteller wächst
Es war eine Grundsatzentscheidung, vor der alle OEMs standen: das Infotainment gemeinsam mit etablierten Partnern aus der Automobilwelt zu entwickeln – oder mit Tech-Playern wie Google. Zu langsam und im Ergebnis zu beschränkt war viele Jahre der traditionelle Entwicklungsweg für integrierte Infotainmentsysteme. Während sich die technischen Möglichkeiten der Smartphone-Welt in jeder Hinsicht quasi im Halbjahres- und Jahresrhythmus erweiterten, mussten Autofahrer allein schon aufgrund der Haltedauer von Fahrzeugen mit zunehmend veralteten Infotainmentsystemen vorliebnehmen. Den Druck, schneller und flexibler zu werden, spürte die Automobilbranche bald.
Die perspektivische Frage lautet dabei eben, ob man auf einen eigenen Weg setzen soll oder sich auf die Tech-Welt verlässt. „Zweigleisig zu fahren, wäre zumindest schwierig“, sagt Deichmann, „weil sich dann die Kosten für das Engineering auf weniger Fahrzeuge verteilen.“ Das mag manchmal Sinn ergeben, etwa für ein Volumensegment oder für einen regionalen Markt, wo etwa Googles Ökosystem nur eingeschränkt nutzbar wäre – ansonsten eher nicht. Deichmann rechnet damit, dass weitere Unternehmen sich für alternative Ökosysteme entscheiden: kleinere OEMs, chinesische Hersteller, Startups.
Infotainment führt zur Abhängigkeit von Tech-Playern
Die deutschen Autobauer Volkswagen, Daimler und BMW haben sich für eigene Entwicklungen entschieden, als Teil eines kompletten Softwarestack („Betriebssystem“) im Fahrzeug der Zukunft. Toyota geht ebenfalls einen eigenen Weg. „Aufgrund der Ressourcen sind große Zulieferer und OEMs natürlich in der Lage, einen Weg unabhängig von der Tech-Welt zu gehen“, sagt Deichmann. „Jeder muss für sich dabei die Frage beantworten, ob er in der Lage ist, eine gleichwertige oder bessere integrierte Infotainmentlösung anzubieten.“
Die Stärke der Tech-Player sei ja gerade das vollständige Ökosystem aus Inhalten und Apps, die große Entwicklerbasis. „Man darf nicht vergessen, dass heutige Infotainmentsysteme für die Automobilindustrie hohe Margen bedeuten“, so Deichmann weiter. „Diese sind auch für andere Player attraktiv. Entscheidet man sich für das System eines Tech-Players, so hat man zudem wenig Einfluss darauf, welche technischen Erweiterungen es geben wird.“ Ein OEM wäre hier in einer ähnlichen Situation wie der Anbieter eines Android-Smartphones: Letztlich bestimmt Google, was wie und wann umgesetzt wird.
Infotainment ist ein lukratives Wachstumsgeschäft
Doch am stärksten kochen die Emotionen beim Thema Daten hoch. Viele in der Automobilindustrie befürchten, dass durch eine Entscheidung pro Tech-Player beim Infotainment die OEMs auch Daten aufgeben müssen, mit denen dann andere Geld verdienen. Inwieweit diese Sorge begründet ist, lasse sich derzeit noch nicht endgültig einschätzen, so Deichmann: „Der Einfluss auf die Wertschöpfung ist unklar, weil heute ja noch nicht absehbar ist, welche neuen Business Cases sich wirklich auftun und durchsetzen werden.“ Fest steht, dass das Automobil-Infotainment ein wachsender Markt ist.
Laut Mordor Intelligence hatte das Geschäft im vergangenen Jahr ein weltweites Volumen von 25 Milliarden US-Dollar. Und trotz negativer Auswirkungen durch die Coronapandemie erwarten die Marktforscher bis 2026 ein Volumen von 41 Milliarden US-Dollar, was einem jährlichen Wachstum von etwa acht Prozent entspräche. Die weiterhin zunehmende Verbreitung von Smartphones und hohen Internetbandbreiten sei hierbei global die treibende Kraft. Besonders Nordamerika und Europa hält Mordor aufgrund der vielen hochpreisigen Fahrzeuge für entscheidende Märkte, in der Region Asien-Pazifik ist es – wenig überraschend – vor allem China.
Autoherstellern mangelt es nicht an Visionen
Beobachter sind jedoch noch nicht sicher, ob jeder OEM tatsächlich eine klare Strategie beim Infotainment verfolgt. An Visionen mangelt es dagegen nicht, wie sich zuletzt auch wieder auf der Consumer Electronics Show (CES) Anfang des Jahres zeigte. Von „Immersive Infotainment“ war da die Rede, weil den Insassen zunehmend autonom werdender Fahrzeuge ja eine entsprechende User Experience geboten werden muss.
Chris Schreiner vom Beratungsunternehmen Strategy Analytics bezweifelt, ob die Mehrzahl der Fahrzeugbesitzer tatsächlich in technisch zwar beeindruckenden, aber letztlich sehr speziellen Anwendungen ihre Prioritäten sieht: „Für die nächsten fünf bis sieben Jahre sind vernetzte und kontextabhängige Navigation, die intelligente Integration von vernetzten Medien und erweiterte Sicherheitsfeatures viel wichtiger.“ Leisten kann das jede Infotainmentlösung – egal, ob die Basis eine Eigenentwicklung, Android Automotive oder das Betriebssystem eines anderen Tech-Players ist.