Die Skyline einer Großstadt bei Nach mit Illustrationen zu POIs eines Navigationssystems.

Das Münchener Unternehmen 4.screen bringt Ende des Jahres eine Plattform für kontextuelles und intelligentes Marketing auf den Markt. (Bild: Andreas Croonenbroeck)

Während der Corona- und Halbleiterkrise fokussieren sich die Autohersteller zwangsläufig auf die Elektrifizierung des Portfolios. Digitale Geschäftsmodelle spielen oftmals noch immer die zweite Geige. Einerseits überlasst die Branche damit Tech-Giganten das Feld, die im Bereich Software, digitale Dienste und Datenmonetarisierung ohnehin einen Vorsprung genießen, andererseits profitieren Startups, die sich als Dienstleister zwischen OEMs und Kunden positionieren. Eines davon ist das Münchener Unternehmen 4.screen, das Mitte 2020 von ehemaligen BMW-Mitarbeitern gegründet wurde.

Dank einer Finanzierungsrunde im siebenstelligen Bereich, namhaften Investoren und Beratern wie Matthias Müller, (ehemaliger Volkswagen-Chef), Frank Lindenberg (ehemals CFO bei Mercedes-Benz und derzeit Aufsichtsrat der Lucid Group), Bram Schot (ehemaliger Audi-Chef und aktuell Vorstandsmitglied bei Royal Dutch Shell) sowie Tech-Partnern wie Microsoft wollen die Gründer zum Ende des Jahres eine Plattform für kontextuelles und intelligentes Marketing auf den Markt bringen. Die Mobility Experience Cloud (MXC) werde dann mit namhaften OEMs und Mobilitätsdienstleistern integriert. Den Anfang mache in den kommenden Monaten ein europäisches Carsharing-Unternehmen, so das Startup.

MXC schafft Plattform für Werbekampagnen

„Geschäfte wie Tankstellen, Restaurants, Supermärkte oder Parkhäuser sind schon heute integraler Bestandteil fast jeder Fahrt. Doch diese Geschäfte haben bislang keine Möglichkeit, Fahrer direkt im Fahrzeug anzusprechen”, sagt Fabian Beste, CEO von 4.screen. Allesamt können sie künftig Anzeigen und Kampagnen auf das Navigationsdisplay im Auto ausspielen und dabei die generierten Daten von Fahrzeugsensoren oder -kameras nutzen. „Im einfachsten Fall ist das der Tankvorschlag bei einer Restreichweite unter 90 Kilometer, der mit einem kostenlosen Kaffee kombiniert werden kann“, ergänzt Simon Hecker, Co-Founder und Geschäftsführer des Münchner Unternehmens.

Doch die künftigen Anwendungsfälle reichen wesentlich weiter. Luxusanbieter könnten ihre Zielgruppe nach Fahrzeugmarke oder Modell adressieren, innerstädtische Geschäfte bei fehlenden Parklücken die Kosten für das Parkhaus übernehmen oder Hotels rabattierte Übernachtungsangebote bei langen Nachtfahrten mit schlechtem Lenkverhalten machen. Im Falle der Elektromobilität ließe sich die Ladeweile nutzen, indem Geschäfte mit der anteiligen Übernahme der Ladekosten werben. „Wenn wir weiter in die Zukunft springen, werden Supermärkte autonome Fahrten zum Einkaufen sponsern“, ergänzt Simon Hecker.

Die Anzeigen auf dem Display unterliegen dabei einem Qualitätsscore, der analog zu Netflix-Empfehlungen oder der Google-Suche funktioniert und sich anhand akzeptierter Vorschläge stetig verbessert. Genutzt werden dafür lediglich pseudonymisiert Daten. In einer zukünftigen Ausbaustufe können und sollen jedoch auch personalisierte Daten genutzt werden, so der 4.screen-Mitbegründer. Wer sich für Kunst interessiert, könnte anhand seiner angegebenen Interessen und Präferenzen auf eine Ausstellung in der Nähe hingewiesen werden oder bei einer Ankunftszeit kurz vor Schließung eine Ermäßigung erhalten – die Möglichkeiten sind mannigfaltig.

Google als Konkurrent bei digitalen Diensten

Konkurrenzlos ist das Vorhaben des Münchener Startups jedoch nicht. Instinktiv geistert der Gedanke an einen marktbeherrschenden US-Konzern durch den Kopf. „Google ist unser großer Konkurrent. Mit uns haben die OEMs die Chance, neue digitale Geschäftsmodelle aufzubauen und langfristig gegen Google zu bestehen“, erklärt Simon Hecker. Es sei selbstverständlich, dass die Kalifornier die Fahrtzeit ebenfalls nutzen wollen, um den Fahrer mit Informationen zu bespielen und diese zu monetarisieren. Die bisher genutzte Spiegelung des Smartphones ist seines Erachtens allerdings eine Brückentechnologie und biete zukünftig eine schlechtere User Experience als nahtlos integrierte Navigationserlebnisse.

Dienste von Apple oder der Google-Tochter Waze, die ihre Services mit Hilfe des „Projected Mode“ anbieten, bereiten ihm deshalb weniger Sorgen, denn die Digitalriesen haben diesen Umstand selbst erkannt und drängen zunehmend ins Infotainmentsystem. Bestes Beispiel: die Modelle der Geely-Töchter Volvo und Polestar. „Wer sich künftig über digitale Produkte und Dienste differenzieren will, sollte Google nicht ins Auto lassen“, meint Hecker. Sein Unternehmen vertraue auf den Premiumanspruch der Autohersteller, die im Connected Car Kunden erreichen, Zusatzservices anbieten und Daten monetarisieren wollen.

Neues Geschäftsmodell für Autohersteller

Dass die digitale Experience zum Differenzierungsmerkmal werden könnte, bestätigt etwa der neue MBUX Hyperscreen von Daimler. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Strategy& hat die Coronakrise das Interesse an digitalen Diensten gar erhöht: Knapp 60 Prozent der deutschen Verbraucher wünschen sich demnach Connected-Car-Angebote. „Insbesondere die deutschen Automobilhersteller haben sich fundamental dagegen entschieden, Google tiefer ins Auto zu integrieren“, führt Hecker aus. Hier setze 4.screen an: Mit allen deutschen Herstellern wurde die technische Machbarkeit der Plattform validiert. Für zwei OEMs wird bereits an der Integration der Lösung gearbeitet, die je nach Hersteller etwa drei bis sechs Monate dauert.

Dadurch, dass lediglich eine Integration im Backend sowie die Übermittlung relevanter Daten notwendig sind, können ebenfalls Bestandsfahrzeuge adressiert und die Lösung nativ in die jeweiligen Infotainmentsysteme eingebettet werden. Die Onboard-Software bleibt dabei unberührt. Man liefere nur Zusatzinformationen zu den Daten der POI-Provider, erklärt Simon Hecker. In diesem Bereich können 4.screen und der POI-Provider Google somit koexistieren.

Der Vorteil für OEMs: Die Akquise erfolgt über das Frontend der digitalen B2B-Plattform, auf der Werbekunden direkt sowie über Aggregatoren oder Marketingagenturen ihre Angebote eintragen – einzig die proaktive Entscheidung im Backend, welche Anzeigen gegen Gebühr ausgespielt werden, entfällt auf den Autobauer. So können OEMs ihre Daten monetarisieren und digitale Services anbieten, während sie an anderer Stelle noch Brände löschen. Sollte Augmented Reality oder autonomes Fahren schließlich Einzug in neue Modelle halten, sind viele der möglichen Marketingideen bereits vorgedacht – auch ohne Google.

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