Automotive Edge

Vom Zulieferer zur Software-Company

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Für klassische Tier1-Zulieferer wird die Softwareentwicklung immer wichtiger.
Für klassische Tier1-Zulieferer wird die Softwareentwicklung immer wichtiger.

Die Zukunft softwaredefinierter Zulieferer hat begonnen. So hat Continental hat mit seiner Automotive Edge Platform eine eigene Plattform für software-definierte Fahrzeuge entwickelt. Nur ein Beispiel.

„Nahezu alle Unternehmen in der Automobilindustrie wandeln sich zunehmend zur Software Company“, sagt Michael Tenschert, Experte für Softwarelösungen im Automobilbereich bei Capgemini in Deutschland. „Dadurch sind die Geschäftsmodelle der meisten Zulieferer unter Druck und sie müssen sich neu erfinden, wenn sie am Markt relevant bleiben wollen.“ Eine entscheidende Rolle spiele dabei die Trennung von Hardware und Software – denn so passe man sein Angebot an die Entwicklung an, die gerade bei den Herstellern geschieht.

So sieht das auch Christof Horn, Automotive-Experte bei Accenture: „Die Karten in der automobilen Value Chain werden gerade neu gemischt. Die früheren Gesamtpakete von Hardware und Software, die vom 1st Tier als Blackbox geliefert wurden, werden aufgeschnürt: OEMs brechen die traditionellen vertikalen Wertschöpfungsketten auf und kaufen horizontal ein“, beobachtet er.

„Eine Blackbox aus Hardware und Software zu liefern reicht nicht mehr aus“, erklärt Tenschert. „Die Software verschiedener Lieferanten muss flexibel und unabhängig in die Hardware der Hersteller integrierbar sein – und diese Integration muss früher im Entwicklungsprozess und Hardware-unabhängig erfolgen können.“ Nur so ließe sich die Time-to-Market erheblich reduzieren. Nicht zuletzt muss Software kontinuierlich aktualisiert und ausgerollt werden. Tenschert: „Daher sind Zulieferer im Vorteil, die über eine grundlegende Software-Kompetenz verfügen.“

Entwicklungszyklen verkürzen sich massiv

Die hat man bei Continental unter anderem mit CAEdge längst entwickelt. Dabei handelt es sich eine cloudbasierte Entwicklungsumgebung für SDVs. Sie wurde 2020 gemeinsam mit AWS aufgesetzt, um die Abhängigkeit von physischer Hardware bei der Entwicklung und dem Testen von Fahrzeugsoftware zu reduzieren. „Damit werden Entwicklungszyklen, die früher Wochen dauerten, durch virtuelle ECUs und automatisierte Cloud-Prozesse auf wenige Minuten verkürzt“, berichtet Thomas Kiendl, Cloud Solution Architect bei Continental. „CAEdge bietet auch eine kollaborative Umgebung für verteilte Teams und Projekte. Die Plattform ermöglicht es, Testumgebungen flexibel und automatisiert bereitzustellen – unabhängig von physischer Hardware und in großem Maßstab.“

Für mehr Geschwindigkeit in der Entwicklung sorgen vor allem virtuelle Steuergeräte (vECU Creator) in CAEdge, die digitale Zwillinge physischer Steuergeräte ermöglichen. Diese vECUs laufen auf maßgeschneiderten Amazon EC2-Instanzen und unterstützen verschiedene Betriebssysteme (etwa Android, Linux, QNX, Classic AUTOSAR). Entwickler können über eine Benutzeroberfläche vECUs erstellen und testen – inklusive Audio-/Video-Streaming und CAN-Simulation. Der vECU Creator und CAEdge erweitern das klassische Zuliefermodell, erklärt Kiendl: „Neben Hardware und Software stellt Continental eine Plattform für virtuelle Tests sowie Referenz-ECUs bereit.“ Somit wird der Zulieferer gewissermaßen zum Plattformanbieter. „Wir werden dadurch zwar nicht zum Infrastruktur-Provider, nutzen aber mit AWS bestehende Hyperscaler, um den Entwicklungsprozess massiv zu beschleunigen“, unterstreicht Kiendl.

Zwar werden Zulieferer Hyperscalern natürlich niemals das Wasser reichen können, doch sie werden zunehmend mit spezialisierten Lösungen aufwarten und diese Dritten anbieten: „Wir beobachten vermehrt Versuche, die für die eigene Entwicklung bereits genutzten Tools für andere nutzbar zu machen und somit zu monetarisieren“, sagt Tenschert.

Mehr Wertschöpfungsanteil für die Zulieferer?

Eine große Rolle spielen auch Feature on Demand Services und zunehmend KI basierte Funktionen. Ein Beispiel dafür ist die „Travel Companion Cloud Plattform“, die Continental als White-Label-Lösung für OEMs anbietet. „Diese Plattform basiert auf maschinellem Lernen und empfiehlt dem Nutzer Dienste basierend auf seinem persönlichen Profil und aktuellen Kontext“, erläutert Kenneth Malmberg, Head of Business and Portfolio Management bei Continental. Fahrer können Dienste abonnieren, die ihren Interessen und Bedürfnissen entsprechen. „Der Travel Companion ist nur ein Beispiel dafür, wie Continental Personalisierung im SDV ermöglicht“, so Malmberg, „und jedes Fahrzeug zu einem ‚Experience Defined Vehicle‘ macht, bei dem der Nutzer funktionale Upgrades über den gesamten Lebenszyklus des Fahrzeugs hinweg wählen kann.“

Damit wachsen Supplier in eine neue (lukrative) Rolle. „Mit der Transformation zum SDV fokussieren Zulieferer wie Continental stärker auf flexible Softwarelösungen und -services und werden an einem größeren Teil der Wertschöpfungskette beteiligt sein“, sagt Malmberg. „Während die Kollaboration bisher stärker komponentenorientiert war, erfordert das SDV-Modell eine zusätzlich engere, softwarezentrierte Partnerschaft zwischen Zulieferern und OEMs.“ Dies führe zu neuen Formen der Zusammenarbeit und Geschäftsmodellen. „Dabei übernehmen Zulieferer eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Integration von Softwarelösungen“, unterstreicht Malmberg. „Dies bietet neue Chancen für die 1st Tier, erfordert aber auch einen Umbau ihrer Organisationen und Fähigkeiten“, sekundiert Horn.

Einheitslösungen wird es nicht mehr geben

„Grundsätzlich bieten ganzheitliche Toolketten zahlreiche Vorteile, verursachen aber auch einen hohen Aufwand“, wirft Tenschert an dieser Stelle ein. „Es muss klar definiert werden, welche Verantwortung OEMs, Partner und Zulieferer in der Softwareentwicklung haben.“ Zulieferer könnten sich zum Beispiel auf schnelle Releases, schnelles Feedback und Virtualisierung konzentrieren, um den gesamten Entwicklungsprozess zu beschleunigen. „Die OEMs übernehmen dann die Endintegration, sind also verantwortlich für die Integrations-Toolkette“, so Tenschert. „Traditionelle Automobilhersteller werden eher in die Optimierung ihrer eigenen Lösungsbausteine investieren.“

Ebenso könne es sinnvoll sein, im Rahmen von Kooperationen nicht-differenzierende Bestandteile gemeinsam zu entwickeln – beispielsweise auf Basis von Open Source Software – und dadurch die Diversität bei der Integration zu verringern. „Für eine effiziente Kollaboration auf Software-Basis ist eine modulare und skalierbare SDV-Plattform entscheidend“, sagt Tenschert. Großes Potenzial hätten sehr spezialisierte Lösungen für dedizierte Domänen oder Industrie-Bereiche, sofern sie sich unkompliziert in bestehende IT-Landschaften und Plattformen integrieren ließen.

Branchenkenner erwarten jedenfalls, dass sich der Zulieferermarkt verändern wird. „Er wird sich zunehmend in Hardware- und Software-Lieferanten aufteilen“, sagt Tenschert. „Das bedeutet auch: Es entsteht ein neuer Markt für Systemintegratoren und Middleware-Anbieter.“ In einigen Fällen werde ein Unternehmen alle drei Bestandteile anbieten. „Das klassische Geschäftsmodell der Tier-1-Zulieferer wandelt sich damit drastisch“, betont Tenschert. „Die Lieferanten werden ihre Expertise zunehmend fokussieren, so sind beispielsweise Kernfunktionen im ADAS-Bereich, wie autonomes Parken, klar beim Zulieferer platziert.“ Die Kunst bestehe darin, für den individuellen Weg jedes OEMs und für spezifische Projekte die richtige Kombination zu finden. Tenschert: „One size fits all-Lösungen werden perspektivisch eher verschwinden.“