
Joachim Franz arbeitet mit Mercedes an der Weiterentwicklung der MO360-Datenplattform. (Bild: Microsoft / Mercedes)
Joachim Franz kennt die Automobilindustrie aus vielen Perspektiven: Als früherer Managementberater bei Accenture hat er OEMs und Zulieferer über viele Jahre durch Transformationsprojekte begleitet. Im Volkswagen-Konzern trieb er unter anderem datengetriebene Geschäftsmodelle, Mobilitätsservices und das globale Digital Business voran. Heute steht er auf der Seite eines der wichtigsten Technologiepartner der Branche: Seit 2022 verantwortet Franz als Automotive Industry Lead bei Microsoft Deutschland die strategische Zusammenarbeit mit Automobilunternehmen, mit Fokus auf die digitale Transformation.
Auf der Hannover Messe 2025, wo Microsoft unter anderem den neuen Factory Operations Agent vorgestellt hat, wird deutlich: Das Unternehmen setzt auf den flächendeckenden Einsatz industrieller KI. Für Franz steht fest, dass künstliche Intelligenz alle Bereiche der automobilen Wertschöpfung transformieren wird – von der Fahrzeugentwicklung über die Produktion bis hin zu neuen Geschäftsmodellen im Fahrzeug selbst. Dabei geht es nicht mehr nur um punktuelle Optimierung, sondern um den Einsatz vernetzter Multi-Agenten-Systeme, die eigenständig Lösungen entwickeln und Entscheidungen vorbereiten können.
Franz spricht über aktuelle Projekte mit OEMs wie Mercedes-Benz, über das Potenzial von KI-gestützten Expertensystemen zum Erhalt von Erfahrungswissen sowie über die wachsende Bedeutung fachlicher Expertise in einer zunehmend automatisierten Produktionswelt. Und er macht klar: Die eigentlichen Herausforderungen liegen nicht nur in der Technologie – sondern vor allem bei Organisation und Kultur.
Herr Franz, zu den Neuheiten von Microsoft auf der Hannover Messe 2025 gehört unter anderem der Factory Operations Agent, der durch KI-Unterstützung Abläufe in der Fabrik optimieren soll. Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die spannendsten KI-Trends für Automobilhersteller?
Für uns steht fest, dass KI die gesamte automobile Wertschöpfungskette fundamental transformieren wird. Das beginnt bei der Entwicklung und dem Design von Fahrzeugen, geht über Produktion, Logistik, Supply Chain, Vertrieb, Marketing, Kundendialog und Aftersales bis hin zu HR, Finanzen und IT. Das zentrale Thema für die deutsche Automobilindustrie ist derzeit die Frage, wie man den Entwicklungsprozess von derzeit durchschnittlich 48 bis hin zu teilweise 60 Monaten, deutlich beschleunigen kann – idealerweise auf 30 bis 24 Monate, wie wir es aus China kennen. Das ist eine große Herausforderung. Hier kann KI auf verschiedenen Ebenen unterstützen – punktuell, etwa im Bereich Requirements Management bei der Frage, wie man Anforderungen aus Gesetzestexten oder Kundendialogen in Spezifikationen für Fahrzeuge übersetzen kann. Dieser bisher manuelle Prozess kann durch KI stark unterstützt werden. Im gesamten V-Modell der Fahrzeugentwicklung gibt es viele Ansatzpunkte. Besonders spannend wird es hier, wenn wir von der Arbeit mit punktuellen KI-Agenten zu Multiagentensystemen kommen, in denen Agenten miteinander kommunizieren und Probleme eigenständig lösen. Das ist ein hochspannendes Feld mit einem großen Potenzial, den Entwicklungszyklus deutlich zu verkürzen.
Und welche Anwendungsfälle sehen Sie in der Fertigung selbst?
Die Produktion ist natürlich ebenfalls ein zentrales Feld für den Einsatz von KI. Hier ermöglichen wir es Mitarbeitenden, mit den Daten vernetzter Maschinen zu interagieren – per natürlicher Sprache. Zum Beispiel: Ein Werker erkennt Verbesserungspotenzial und kann beim System erfragen, warum in der gestrigen Schicht an einer Fertigungsstation ein bestimmtes Problem mehrfach aufgetreten ist. Das System analysiert daraufhin mögliche Ursachen und liefert Verbesserungsvorschläge. Früher brauchte man dafür mehrere Fachleute – für das Auslesen der Daten, für ihre Analyse und für die Ableitung von Maßnahmen. Heute können KI-Agenten diese Aufgaben weitgehend übernehmen, sodass der Werker direkt mit den Ergebnissen weiterarbeiten kann. Das beschleunigt Prozesse enorm und bringt verschiedene Kompetenzen zusammen – für schnelle Entscheidungen. Unsere Grundannahme ist, dass sich jeder Prozess durch KI optimieren lässt – es geht nur um das Wie, Wo und Wann. Auch in Bereichen, wo körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten stattfinden, sehen wir großes Potenzial, etwa durch agentengestützte Robotersysteme. Und ein Aspekt ist noch wichtig: In den nächsten zehn Jahren gehen viele hochqualifizierte Fachkräfte in Rente. Das Wissen, das sie aufgebaut haben, droht verloren zu gehen. Auch hier kann KI helfen – durch Expertensysteme, die dieses Wissen bewahren und zugänglich machen. Das ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unserer Industrie.
Auch Mercedes-CIO Katrin Lehmann spricht sich sehr für das Potenzial von Multi-Agenten-Systemen aus. Sie arbeiten mit Mercedes-Benz an der Datenplattform MO360. Können Sie einen Einblick geben, wie sich Microsoft an diesem Projekt beteiligt?
Wir arbeiten mit Mercedes am Aufbau und der Weiterentwicklung der MO360-Datenplattform zusammen – unter dem Leitgedanken der Demokratisierung von Daten. Es geht darum, Daten nicht nur in IT-Systemen zu speichern, sondern sie wirklich für Anwender nutzbar zu machen. Wir liefern dafür die Technologien – zur Maschinenvernetzung, zum Aufbau der Datenplattform und für die Schnittstellen, über die Mitarbeitende darauf zugreifen. Zudem entwickeln wir gemeinsam mit Mercedes-Benz konkrete Use Cases: Was lässt sich mit den vorhandenen Daten realisieren? Wie kann man daraus Wert generieren? Dafür arbeiten wir sowohl mit den IT-Experten aus dem Bereich von Frau Lehmann eng zusammen, aber auch mit der Fachabteilung von Produktionsvorstand Jörg Burzer. Unsere Rolle ist es, IT und Fachbereiche zu verbinden und mit technologischen Lösungen zu unterstützen. Spannende KI-Use-Cases auf Basis der MO360-Daten in der Zukunft wären etwa Agenten, die Schichtplanung verbessern, Durchlaufzeiten optimieren oder Bestände reduzieren. Die Daten dafür sind vorhanden. Jetzt geht es darum, diese durch Agenten auswerten zu lassen und daraus Entscheidungsvorschläge zu generieren. Ein weiteres Beispiel – hypothetisch, aber anschaulich: In der Endmontage eines Cockpit-Moduls könnten verschiedene spezialisierte Agenten zusammenarbeiten. Ein Agent kennt alle Einbaumaße, ein anderer ist Experte für das Modul selbst, ein dritter kennt den Montageprozess. Gemeinsam könnten sie Verbesserungsvorschläge generieren, um etwa die Verbauzeit zu reduzieren.
Wenn KI-gestützte Agenten immer mehr eingesetzt werden – wie verändert dies die Rolle von Fachkräften in der Produktion?
Ich bin überzeugt, dass die fachliche Expertise der Mitarbeitenden weiter an Bedeutung gewinnt. Tätigkeiten wie das Aufbereiten von Daten, das Durchforsten von Dokumenten oder das Erstellen von Berichten – also nicht-wertschöpfende Aufgaben – werden stark reduziert. Gleichzeitig rückt die Ingenieurskunst stärker in den Vordergrund. Der Job von Ingenieuren in Entwicklung und Produktion wird durch den KI-Einsatz also aufgewertet. Sie können sich auf Problemlösungen konzentrieren, statt auf Administration. Das macht die Arbeit spannender – und viele berichten schon, wie sehr sich ihr Arbeitsalltag verbessert hat. In der Softwareentwicklung sehen wir das ganz deutlich: KI übernimmt Dokumentation, Code-Recherche und viele andere Routinen. Entwickler können sich ganz auf die Problemlösung konzentrieren. Und Ich bin sicher, so wird es auch in der Produktion sein.
Inwiefern müssen die Beschäftigten zusätzlich qualifiziert werden, um dieses Potenzial der Technologie ausschöpfen zu können?
Die einfache Antwort wäre: Jeder muss Prompt-Ingenieur werden. Das ist nicht gänzlich falsch, denn es ist wichtig zu wissen, wie man gute Prompts schreibt, um schnell zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Aber darüber hinaus braucht es neue Problemlösungskompetenz: Wie nähere ich mich einem Thema? Wie strukturiere ich Arbeitsschritte? Was priorisiere ich? Früher lautete die erste Frage oft: Was sind die wichtigsten Use Cases? Heute lautet sie: Wie kann ich meine Geschäftsprozesse durch KI verbessern?
Wenn wir den Blick über das Optimieren bestehender Prozess hinaus gehen lassen, welche neuen Geschäftsmodelle kann KI in der Autoindustrie ermöglichen?
Spannende Frage. Ein Zwischenschritt ist sicher das Thema Auto als rollendes Büro. Mercedes hat bereits Level-3-Systeme im Einsatz: Sie müssen nicht mehr aktiv lenken und können etwa an einem Teams-Call teilnehmen. Teams ist direkt ins Fahrzeug integriert. Langfristig ergeben sich durch das autonome Fahren ganz neue Nutzungsszenarien: Das Auto wird zu einem Büro, Wohnzimmer oder Kinosaal. Das eröffnet komplett neue Geschäftsmodelle und wäre ohne die Unterstützung von KI sicher nicht möglich.
Sind die Herausforderungen beim KI-Einsatz eher technologischer, organisatorischer oder kultureller Natur?
Alle drei Aspekte müssen berücksichtigt werden. Man kann nicht einfach Technologie einführen, ohne Prozesse zu hinterfragen oder die Mitarbeitenden mitzunehmen. Technologisch ist man sehr weit. Unser Motto auf der Hannover Messe lautet "Industrielle KI in Action" – weil KI heute in vielen Unternehmen wirklich sichtbar wirkt. Es braucht also kein Warten mehr, sondern Umsetzung. Organisatorisch muss man den Mut haben, Prozesse komplett zu hinterfragen: Was kann ich verbessern, vereinfachen, automatisieren? Diese Denkweise erfordert einen kulturellen Wandel. Und natürlich müssen Mitarbeitende befähigt werden, das Potenzial zu heben – durch Schulung und durch praktische Erfahrung. Wenn die ersten Prompts gut funktionieren, ist die Akzeptanz schnell da.
Beobachten Sie, dass Unternehmen gerade jetzt angesichts der angespannten Marktsituation eher vorsichtiger oder offensiver mit KI umgehen?
Ganz klar: offensiver. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie lässt sich nur mit Technologie auf das nächste Level bringen – nicht allein mit mehr Investitionen oder zusätzlichen Fachkräften. Es geht nur mit technologischer Innovation. Das sage nicht nur ich. Auch Entscheider aus der Industrie haben das in einer von uns beauftragten und von Techconsult durchgeführten Umfrage bestätigt: 89 Prozent der mehr als 200 befragten Entscheider aus der Industrie sind davon überzeugt, dass KI der deutschen Industrie helfen kann, international an der Spitze zu bleiben. Bei fast 45 Prozent ist KI bereits Bestandteil von Geschäftsprozessen. Wir sind also auf dem richtigen Weg.
Abschließend: Was würden Sie Unternehmen raten, die in KI-gestützte Fertigung einsteigen wollen?
Vor allem Mut. Zögern führt nicht zum Erfolg. Starten Sie mit dem wichtigsten Prozess – idealerweise einem, der hochrepetitiv ist, bei dem man schnell Wert generieren und skalieren kann. Dann können Sie erste Erfolge zeigen und das Thema im Unternehmen weiter ausrollen. Das ist laut unserer Umfrage tatsächlich ein zentraler Erfolgsfaktor bei der KI-Einführung. Fast drei Viertel der KI-Pioniere, also der Unternehmen, die KI bereits in den meisten oder gar allen relevanten Geschäftsprozessen verankert haben, sagten, dass die KI innerhalb kurzer Zeit einen klar erkennbaren Nutzen liefern muss. Diese Daten bestätigen meine eigene Erfahrung: Wer wirklich einmal selbst erlebt hat, wie viel KI heute schon leisten kann, den lässt das Thema nicht mehr los.
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