Porträt von Thomas Raste, Principal Expert für Vehicle Dynamics bei Continental, vor dem Hintergrund eines futuristischen Fahrzeugs mit digital eingeblendeten Vernetzungs- und Steuerungselementen – symbolisierend softwaredefinierte Fahrzeugarchitekturen und intelligente Bewegungssteuerung.

Thomas Raste, Principal Expert für Vehicle Dynamics bei Continental, spricht über die Rolle modularer Bewegungssteuerung im softwaredefinierten Fahrzeug. (Bild: Continental / Collage)

Mit über zwei Jahrzehnten Erfahrung in Industrie und Wissenschaft zählt Thomas Raste zu den führenden Köpfen im Bereich Fahrzeugsicherheit und Bewegungssteuerung. Als Principal Expert für Vehicle Dynamics bei Continental Automotive ist er aktiv im konzernweiten Expertennetzwerk eingebunden und spielt eine zentrale Rolle bei der Weiterentwicklung zukünftiger Bewegungsstrategien für Fahrzeuge.

Zu seinen wichtigsten Projekten zählt unter anderem seine führende Rolle im europäischen Forschungsprojekt ID4EV (EU FP7), in dem er ein kooperatives ABS-Regelsystem mit Energierückgewinnung entwickelte. Außerdem leitete er die Arbeiten zur Bewegungssteuerung im Rahmen eines automatisierten Fahrprojekts in Zusammenarbeit zwischen BMW und Continental. Im Vorfeld der Automotive Software Strategies Conference am 21. und 22. Mai in München haben wir mit ihm über die Trends beim SDV gesprochen.

Herr Raste, wie entwickelt sich die traditionelle Rolle der Bewegungssteuerung im Kontext softwaredefinierter Architekturen weiter?

Das Konzept des softwaredefinierten Fahrzeugs basiert auf der Trennung von Hard- und Software, der Konsolidierung der Rechenleistung in größere Einheiten und deren Entkopplung von den Aktuatoren. Das gilt für alle elektronisch gesteuerten Fahrzeugfunktionen – einschließlich der Bewegungssteuerung. Die Entwicklung im Bereich Motion Control war bisher durch mehrere Technologiesprünge gekennzeichnet: die Einführung von Mechatronik mit ABS/ESC, die Integration von Fahrerassistenzsystemen und Verbrauchsoptimierung sowie die funktionale Integration von Sensorik. Frühe Bewegungssteuerungen waren stark voneinander abhängig – eine Änderung an einer Komponente hatte fast immer Auswirkungen auf viele andere. Heute entwickelt sich Motion Control hin zu mehr Modularität mit hochstandardisierten Modulen wie Betriebssystemen, Middleware und Schnittstellen. Diese bilden die Grundlage für schnelle Entwicklungs- und Integrationszyklen von nicht standardisierten „Solution“-Modulen, die auf die Differenzierungsbedürfnisse der Automobilhersteller zugeschnitten sind.

Wie gehen Sie bei Continental vor?

Unser Ansatz sieht einen zentralen Chassis-Service als Schlüsselfunktion auf dem Weg zum SDV vor – adressiert durch unsere Holistic Motion Control (HMC)-Software. Als umfassende Lösung für alle Fahrzeugbewegungen ist HMC eine Full-Stack-Software mit einer Vielzahl modularer Komponenten für die aktive Fahrsicherheit, die vollständig hardwareunabhängig sind. Sie kann daher nicht nur in verschiedenen E/E-Fahrzeugarchitekturen eingesetzt werden, sondern auch über die gesamte Lebensdauer des Fahrzeugs hinweg aktualisiert werden. Bei Continental bieten wir HMC als Software-as-a-Product-Lösung an. In Kombination mit den Steuergeräten der Safety & Motion Integration Platform kann sie sogar als vollständige Systemlösung fungieren.

Welchen Mehrwert können Zulieferer OEMs bieten, die sich im Wandel zum SDV befinden?

Modularität macht Komplexität beherrschbar und ermöglicht unabhängiges, paralleles Arbeiten – was die Markteinführungszeit erheblich verkürzt. Der Wert eines modular aufgebauten Systems summiert sich aus den Werten der einzelnen Module und übertrifft den eines monolithischen Gesamtsystems. Modularität schafft also Mehrwert – ist jedoch nicht kostenlos. Systemintegration und Testing verursachen einen Großteil der Kosten. Continental bietet das vollständige End-to-End-Spektrum an Entwicklungs- und Fertigungsdienstleistungen, um diese Kosten zu minimieren. Einerseits können SDV-Lösungen die Komplexität der E/E-Architektur reduzieren – etwa durch die Zusammenfassung verschiedener Funktionen in größeren Steuergeräte-Einheiten – und gleichzeitig die Sicherheit erhöhen sowie langfristig Kosten einsparen. Andererseits eröffnet diese Technologie völlig neue Spielräume im Fahrzeug-Design. Eine geringere Komplexität und bessere Performance lassen sich durch intelligente Aktuatoren und Sensoren erreichen. Diese smarten Komponenten lösen Probleme intern – etwa Fertigungstoleranzen oder Fehlererkennung. Redundanz auf Komponentenebene ist jedoch oft nicht wirtschaftlich. Um Kosten zu optimieren und gleichzeitig die Fahrzeugsicherheit signifikant zu erhöhen, ist eine zentrale Steuerung notwendig, die Quervernetzungen und Redundanzen zwischen Aktuatoren umfassend nutzt.

Haben Sie ein Beispiel?

Ein Giermoment zum Lenken kann im Fehlerfall auch über Einzelradbremsen oder -motoren erzeugt werden, wenn der Lenkaktuator ausfällt. Unsere HMC ermöglicht über ihren zentralisierten, integrierten Multi-Aktuator-Ansatz nahezu alle denkbaren Anwendungsfälle.

Wie beeinflusst der Wandel von hardware- zu softwarezentrierten Steuerungssystemen sicherheitskritische Bewegungsfunktionen?

Sicherheitskritische Bewegungsfunktionen gewährleisten die Stabilität der Rad- und Fahrwerksbewegungen, indem sie übermäßigen Längs- und Seitenschlupf vermeiden und das Fahrzeug innerhalb seines Stabilitätsbereichs halten. Im Falle einer Notbremsung verfolgt die Bewegungssoftware eine sogenannte „Powertrain-First“-Strategie: Die Bewegungsfunktionen steuern den Längsschlupf, indem sie Zielraddrehzahlen vorgeben, die dann präzise von den elektrischen Antrieben umgesetzt werden. Erst wenn die Leistungsgrenzen der Motoren erreicht oder das Bremsmomentverhältnis nicht mehr ausgewogen ist, übernehmen die Reibbremssysteme auf Anweisung der Software. Smarte Aktuatoren kommunizieren ihre Fähigkeiten, intelligente Algorithmen ermöglichen die Online-Ermittlung von Reibwerten und Seitenschlupf. Die Bewegungsregelung ist stets genau über die jeweilige Sicherheitsmarge informiert – also darüber, wie weit das Fahrzeug von seinen Stabilitätsgrenzen entfernt ist. Durch gezielte, stets begrenzte Eingriffe bleibt die Fahrzeugbewegung im sicheren Bereich. Mit anderen Worten: Fahrten am Grenzbereich sind heute einfacher und sicherer denn je.

Welche Rolle spielt der Fahrer beziehungsweise Nutzer?

Die Verantwortung für das Fahrverhalten und die Verkehrssicherheit liegt weiterhin beim Fahrer. Darüber hinaus ermöglichen softwarebasierte Steuerungsansätze neue, spannende Nutzererlebnisse – etwa durch koordinierte Eingriffe aus einer dynamischen Vorschau-Regelung („feedforward control“), die sich an vom Nutzer wählbaren Zieldynamiken orientiert. Ein typisches Beispiel: Die Lenkreaktion passt sich in ihrer Empfindlichkeit an die Fahrzeuggeschwindigkeit an. Bei Null-Geschwindigkeit kann das Fahrzeug sogar um seine Hochachse rotieren – dieses „Tank Turn“ genannte Manöver wird durch in den Rädern integrierte Elektromotoren ermöglicht.

Dieses Interview wurde zuerst auf Automotive Digital Transformation veröffentlicht.

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