Der autonome ID. Buzz fährt durch München | Volkswagen Nutzfahrzeuge und Moia wollen autonome Shuttles ab 2026 in Hamburg für alle verfügbar machen.

Volkswagen Nutzfahrzeuge und Moia wollen autonome Ridepooling-Busse ab 2026 in Hamburg für alle verfügbar machen. (Bild: Volkswagen)

Seitdem Oliver Blume im September 2022 die Führung bei Volkswagen übernommen hat, weht ein anderer Wind in Wolfsburg. Anders als sein Vorgänger Herbert Diess setzt der gebürtige Braunschweiger auf Pragmatismus. Trotz seines Nachnamens sind blumige Zukunftsfantasien von einer baldigen Führungsrolle beim autonomen Fahren nicht Teil der Agenda des neuen CEOs – im Gegenteil: Das selbsternannte Leuchtturm-Projekt Trinity, welches Volkswagen beim autonomen Fahren ganz weit nach vorne bringen sollte, stellte Blume nur wenige Wochen nach Amtsantritt in Frage. Der ursprüngliche Produktionsstart für das neue Werk wurde von 2026 auf unbestimmte Zeit nach hinten verschoben. Aktuell deutet vieles darauf, dass das Werk nie gebaut wird. Fast zeitgleich beendete Volkswagen die Zusammenarbeit mit Argo AI. Das sorgt dafür, dass sowohl die Hoffnungen aber auch der Druck auf Cariad immens zunehmen. Im Mai 2023 tauschte Blume dort den Vorstand aus. Immerhin gibt es auch Unterstützung für die Software-Tochter: In China soll Horizon Robotics unterstützen, im Rest der Welt ist Bosch der wichtigste Partner für Cariad in Bezug auf die Entwicklung des automatisierten Fahrens für individuelle Mobilität. Die Vorreiter-Rolle nimmt jedoch mittlerweile die Nutzfahrzeug-Sparte ein. Gemeinsam mit der Ridepooling-Tochter Moia will VW ab 2026 autonome Shuttles für die breite Masse anbieten.

Mobileye als Gamechanger für Volkswagen?

Der Rollout des autonomen ID. Buzz von VWN soll in Hamburg starten. Dort betreibt Moia seit Jahren einen Ridepooling-Dienst, der mittlerweile sogar in das ÖPNV-Netz der Hansestadt eingebunden wurde. Damit der Zeitplan eingehalten werden kann, testete VWN 2023 in München und Austin mit einer Flotte von selbstfahrenden Prototypen. Große Hoffnungen ruhen vor allem auf Mobileye. Seit dem Ende der Zusammenarbeit mit Argo.AI ist das Self-Driving-System des israelischen Unternehmens im ID. Buzz verbaut. Im März 2024 verkündete der Konzern eine Intensivierung der Kooperation. So wird die Mobileye-Plattformen SuperVision (Level 2+) zeitnah zur Integration für die Premium-Marken Audi, Porsche, Bentley und Lamborghini zur Verfügung stehen. Die Level 3-Plattform Mobileyes namens Chauffeur soll folgen, einen Zeitrahmen gibt es hier aber nicht. So gut die Partnerschaft mit den Israelis auch läuft – die Entwicklung der immens wichtigen Softwarearchitektur E³ 2.0 soll weiterhin Cariad anführen. "Wir haben gelernt, dass es möglich ist, von Level 2 auf Level 3 und Level 4 weiterzuentwickeln", sagt Carsten Intra, CEO von VWN. Aus heutiger Sicht sei die Zusammenarbeit mit Argo.AI ein Fehler gewesen. Der Ansatz, direkt Level 4 erreichen zu wollen, habe nicht funktioniert.

Dennoch blickt er optimistisch in die Zukunft: "Wir glauben, dass wir mit unserem Gesamtsystem in die Pole Posistion reinfahren können", so Intra. Einen weltweiten Führungsanspruch meint der CEO damit jedoch nicht. Der Fokus bei der Einführung des ID. Buzz AD liegt auf Europa und den USA. Dort soll ebenfalls 2026 der kommerzielle Betrieb in Austin beginnen. Auch wenn Intra betont, dass man ein Full-Stack-Angebot liefern könne, erhofft sich sein Unternehmen in den Staaten Kooperationen mit externen Partnern aus dem Mobilitäts- und Transportbereich. Welche Rolle Moia damit perspektivisch noch spielen wird, bleibt abzuwarten. International dürfte es gegen Giganten wie Uber und Lyft für die Ridepooling-Tochter schwer werden.

Was kann Volkswagens Travel Assist?

Im Hier und Jetzt kann Volkswagen mit dem Travel Assist aufwarten. Das Assistenzsystem hilft beim Beschleunigen sowie dem Halten der Fahrspur und des Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug. Technisch beruht der Travel Assist auf der Road-Experience-Management-Technologie (REM). Diese soll automatisch hochauflösende Karten für die crowdbasierte Cloud-Datenbank Mobileye Roadbook generieren. Im Frühjahr 2022 erfuhr das System weitere Verbesserungen mit der neuen Software-Generation 3.0 für die ID-Modellfamilie: Die Fahrzeuge halten durch Schwarmdaten künftig besser die Spur sowie Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug und die eingestellte Höchstgeschwindigkeit. Mit zwei Radaren im Heck und per Ultraschall soll die Funktion auch den umliegenden Verkehr im Blick behalten sowie beim Spurwechsel auf der Autobahn unterstützen.

Bosch und Cariad arbeiten an Software-Plattform

Gemeinsam mit Bosch soll Volkswagens Softwaretochter Cariad allen Fahrzeugklassen der Konzernmarken eine einheitliche Software-Plattform für das teil- und hochautomatisierte Fahren bereitstellen. Zunächst werden dabei Hands-free-Systeme auf Level 2 sowie eine Lösung auf Level 3 entwickelt, welche die komplette Fahraufgabe auf der Autobahn übernimmt. Erste Funktionen sollen bereits dieses Jahr implementiert werden. Durch die Unklarheiten rund um das Trinity-Projekt dürften sich die Zeitpläne in Richtung Level 4 deutlich nach hinten verschieben. Ursprünglich wollte man mit dem Trinity das Fahren auf ebenjener Automatisierungsstufe in Serie bringen.

Im Vordergrund der Softwareentwicklung steht der datengetriebene Ansatz. Informationen der 360-Grad-Umfelderfassung werden unter anderem mit Hilfe künstlicher Intelligenz analysiert und verarbeitet. „Für die Entwicklung des automatisierten Fahrens ist die beste Schule der echte Straßenverkehr. Wir gewinnen mithilfe einer der größten vernetzten Fahrzeugflotten weltweit eine riesige Datenbasis, um automatisierte Fahrsysteme auf eine neue Stufe zu bringen“, erläutert Mathias Pillin, Vorsitzender des Bereichsvorstandes von Bosch Cross-Domain Computing Solutions.

Als weiteren Partner gewann Volkswagen im Mai 2022 den Tech-Riesen Qualcomm, der in Zukunft eng mit Cariad zusammenarbeiten soll. Bei autonomen Fahrfunktionen bis Level 4 möchte man ab Mitte der Dekade die Snapdragon Ride-Plattform des Unternehmens zum Einsatz bringen. Durch die enge Zusammenarbeit könne Cariad optimal definieren, welche Systeme im Fahrzeug zum Einsatz kommen. Dies ermögliche ein optimales Zusammenspiel zwischen der Plattform im Fahrzeug und der mit Bosch entwickelten Software.

Der OnePod von Volkswagen.
Die Studie OnePod gibt einen Ausblick auf künftige People Mover. (Bild: Volkswagen)

Daten dienen als Grundlage der Entwicklung

Unter anderem arbeitet Cariad im Rahmen von Data Driven Development eigene Lösungen rund um Machine Learning und KI aus. Quantitativ habe man mit über zehn Millionen Neufahrzeugen pro Jahr im Volkswagen-Konzern perspektivisch den Datenvorteil auf seiner Seite, betont Cariad auf Anfrage von automotiveIT. Mit der Übernahme der Kamerasoftware-Sparte von Hella Aglaia habe man unter anderem die Kompetenzen im Machine-Vision-Bereich massiv ausgebaut, im April 2022 verkündete Cariad zudem die Übernahme des Automotive-Geschäfts des Chemnitzer Sensordaten-Experten Intenta.

„Die Volkswagen Automotive Cloud dient dabei ebenso als technischer Backbone wie unsere Automated Driving Platform in Kooperation mit Microsoft, die das Lernen aus gefahrenen Kilometern systematisch unterstützt“, so ein Sprecher des Wolfsburger Autobauers. Dem Gebot der Datensparsamkeit entsprechend werden viele Rechenvorgänge per Edge Computing direkt im Fahrzeug vorgenommen. Dies sei ohnehin nötig, um sämtliche Fahrsituationen auch ohne Netzwerkverbindung beherrschen zu können, heißt es bei Cariad.

Was wird aus dem Artemis-Projekt bei Audi?

Als wären die Spekulationen rund um Trinity nicht genug, wurde Ende 2022 auch Audis Artemis-Projekt in Frage gestellt. Ursprünglich hatte die Entwicklungsorganisation für das E-Fahrzeug mit autonomen Funktionen auf Strukturen und Prozesse außerhalb der traditionellen Konzernsysteme aufgebaut, inzwischen wurde das Projekt allerdings unter Leitung von Oliver Hoffmann in der Technischen Entwicklung bei Audi aufgehängt.

Die Softwareentwicklung für das Zukunftsmodell übernimmt ebenfalls Cariad, den Prozessor liefert mit Nvidia ein weiterer Partner. Im Fokus von Artemis stehen neue Technologien rund um das elektrische, hochautomatisierte Fahren mit konkretem Modellbezug. Der erste Auftrag ist ein neues Elektroauto, das ursprünglich 2025 auf die Straße kommen sollte. Das Team soll außerdem ein Ökosystem um das Auto herum schaffen und so ein neues Geschäftsmodell für die gesamte Nutzungsphase entwerfen.

Cariad muss es für VW jetzt richten

Volkswagen setzte beim autonomen Fahren lange Zeit auf eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte, Unternehmenseinheiten und Partnerschaften. Dabei musste sich der Konzern die Frage gefallen lassen, ob die Stoßrichtung aller Akteure zwangsläufig immer dieselbe ist. Vor allem bei der bereits mehrfach veränderten Organisationsstruktur des Artemis-Projektes, an dem ursprünglich auch Porsche mitgewirkt hatte, zeigt sich, dass der Volkswagen-Konzern noch immer Nachholbedarf bei einer eindeutigen Aufteilung der Ressourcen und Kompetenzen aufweist. Ob es Volkswagen gelingen wird, eine eindeutige Strategie herauszuarbeiten und entsprechende Fahrzeuge auf die Straße zu bringen, wird zu einem großen Teil davon abhängen, ob die Software-Tochter Cariad in Zukunft zuverlässig abliefern kann.

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